Grenzerfahrungen

Es ist DAS große Wort der Kindererziehung, das “magische K”, das der Schlüssel zu glücklichen und lieben Kindern zu sein verspricht – Konsequenz. “Kinder brauchen Grenzen” tönt es aus diversen Ratgeberbüchern und Pädagogenmündern. Versteht mich nicht falsch, ich bin völlig derselben Meinung! Aber wie schwer es ist, sich gegen raffiniert schmeichelnde Traumtänzerinnen oder wutschreiende und unfassbar ausdauernde Lausdirndl zu behaupten, das verrät einem keiner.
Es gibt Situationen, da fällt es mir leicht, konsequent zu sein. Dass das Lausdirndl mit ihren zweieinhalb Jahren nicht allein auf die Straße darf oder die Traumtänzerin abends keine Süßigkeiten mehr bekommt steht völlig außer Zweifel. Komischerweise gibt es über solcherlei Dinge auch keine Diskussionen seitens der Kinder. Spüren sie jedoch einen feinen Riss im Mauerwerk der Überzeugung, und sei er noch so klein, setzen sie genau da ihre Werkzeuge an. Ob das nun Schmeicheleien, Bitten, Quengeleien oder Trotzanfälle sind, ist von Kind zu Kind verschieden. Lediglich eins haben sie alle gemeinsam: eine verblüffende Ausdauer.
Auch Grenzen setzen ist eine hohe Kunst. Während die Traumtänzerin mit einer Argumentationsflut, die jeden Prozessanwalt vor Neid erblassen lassen dürfte, die gesteckten Grenzen wie ein Gummiband auszudehnen versucht, probiert es das Lausdirndl mit der Rammbock-Technnik: mit möglichst viel Kraft und Gebrüll gegen die Wand rennen.

Die Alles-Easy-Mama sieht das ganz locker: “du, der Justin-Pascal und die Shania-Kimberly wissen ganz von selbst, wo ihre Grenzen sind. Die erspüren das ganz instinktiv. Da stören Verbote und Regeln der Eltern die natürliche Entwicklung nur” rezitiert sie, während Shania-Kimberly, die bei frostigen Temperaturen im Sommerkleidchen und mit ungekämmten Haaren rumläuft heimlich das Nachbarskind haut und Justin-Pascal, der um kurz vor 18 Uhr gerade seinen 4. Schokoriegel in Folge mampft, einen Popel in die Haare eines Kleinkindes schmiert.
Mama Perfect zieht fragend eine sorgsam gezupfte Augenbraue hoch. “Diskussionen? Wutanfälle? So etwas gibt es bei uns nicht. Meine Kinder gehen – nachdem sie ihren Gemüseauflauf restlos aufgegessen haben – brav zum Zähneputzen und freiwillig ins Bett!” Nee, ist klar. Ich würde so gerne mal Mäuschen spielen im vermeintlich perfekten Zuhause dieser Strebermütter. Welch Genugtuung wäre es zuzusehen, wie deren Kinder ihren Gemüseauflauf auf den Teller spucken oder als Munition für ihre Löffel-Katapulte zweckentfremden, wild auf dem Sofa rumhüpfen oder nach dem Zubettbringen noch 27mal wegen Pipi/Durst/Albträume/Fußweh/Streitigkeiten wieder aufstehen. Wie die makellose Frisur von Mama Perfect sich langsam in Wohlgefallen auflöst, die Gesichtszüge immer mehr entgleisen und die Nerven blank liegen. Allein die Vorstellung heitert mich schon immens auf!

Mein Mann und ich üben derweil Konsequenz. Gestern durften wir uns ein Fleißkärtchen ins imaginäre Elternheft einkleben – nachdem wir am vorhergehenden Abend vorbildlich konsequent geblieben sind, als das Lausdirndl immer wieder aufgestanden ist und Trinken/ Zudecken/ Papa-Hochtragen/ Gute-Nacht-Highfive/ “noch-nicht-schlafen” wollte.
Auch wenn es uns eineinhalb Stunden Geschrei und unzählige Nerven gekostet hat und wir hinterher fix und fertig waren – wir haben gewonnen! Und – oh Wunder – gestern ist das Lausdirndl anstandslos in ihr Bett marschiert und es war kein Mucks mehr zu hören. 😀
Scheint was dran zu sein, am magischen “K”…

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