Wie bitte?

Gestern Abend kam ich nach einem Termin spät nach Hause. Ich ließ mich auf die Couch plumpsen und nahm mein Handy in die Hand, um noch ein wenig in den Sozialen Netzwerken zu lesen. Hätte ich es doch bloß sein lassen! Auf Facebook stieß ich auf einen Post (tausendfach geklickt, kommentiert & geliked) von der Sprechstundenhilfe einer HNO Praxis. Diese hatte ein Video gepostet, auf dem ihre Kollegin laut schreiend mit einer sehr schwerhörigen, offenbar alten Dame telefonierte, die so gut wie nichts verstand. Drunter in tausenden Kommentaren mindestens ebenso viele Tränenlach-Smileys. In mir platzte etwas auf, ein Gefühl, das ich selber sehr gut kenne und ich verstieß gegen meine eigene goldene Regel, niemals solche Facebook-Posts zu kommentieren. Aber gestern konnte ich nicht anders.

Denn ich bin ebenfalls schwerhörig. Zwar nicht so extrem wie die Dame am Telefon, aber doch genug, um zu wissen, wie weh es tun kann, wenn andere über einen schmunzeln, augenrollen oder gar lachen. Schwerhörigkeit ist nicht lustig. Für nicht Betroffene mag das „nicht so schlimm“ anmuten, aber es ist eine Behinderung, die einen sehr isolieren kann. Niemand hat Lust, einen Witz mehrfach zu wiederholen, weil der/die Schwerhörige die Pointe nicht verstanden hat (akustisch versteht sich). Viele sind genervt, wenn man sie wieder und wieder fragen muss „wie bitte?“ Also lässt man es irgendwann. Weil es einem peinlich ist. Weil man niemandem zur Last fallen möchte mit seinem Handicap. Und man zieht sich aus der geselligen Runde innerlich zurück, weil man schlichtweg nicht genug versteht. Das fühlt sich scheiße an, ganz ehrlich. Man fühlt sich ausgegrenzt. Man wird wütend auf sich selbst, weil man sich nicht traut, wiederholt lauteres Sprechen einzufordern. Man ist wütend auf die anderen, weil sie keine Rücksicht nehmen. Und vor allem wütend auf die Schwerhörigkeit, die einen so ausgrenzt. Ich habe inzwischen seit 12 Jahren Hörgeräte und komme daher zum Glück nicht mehr so oft in Situationen, wo ich wiederholt nachfragen muss. Aber doch immer mal wieder.

Nun zurück zu besagtem Facebook-Post. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass es die Privatsphäre der Patientin in einem geschützten Raum (Arztpraxis) aufs Hinterhältigste verletzt. Dass die Sprechstundenhilfen dafür eigentlich gekündigt oder zumindest abgemahnt werden müssten. Ich fühlte mit der Dame – auch wenn sie davon wohl (hoffentlich) nie etwas mitbekommen wird. Ich fühlte mich Co-ausgelacht und es riss Wunden auf. Also schrieb ich:

Bild 3

Einige like-ten meinen Kommentar. Aber es kamen auch andere Reaktionen – in Form von angreifenden Kommentaren. Hier mal ein Auszug:

…was isn das fürn blöder vergleich.

…Man kann auch alles ins negative ziehen.

…bitte keine Vorurteile!

…nicht immer alles so eng sehen!

…Aber ihr weint jz deswegen nicht oder?

…Man kanns auch übertreiben. 

…finde das lächerlich wenn man sich darüber aufregt

…Humorbehinderung find ich übrigens auch lustig.

…Moralapostel incoming…. Geht lieber zum Bahnhof klatschn.

…Mein Gott geht zum lachen in den Keller und melde es der Bild Zeitung… Wie kann man nur so unlustig sein

Und das ist wohl erst der Anfang – die Verbreitung des Posts nimmt ja gerade erst Schwung auf…

Als ich heute morgen aufwachte, und der Radiowecker lief, hörte mein Mann (ich verstehe aus besagten Gründen leider ohne Hörgeräte nichts), wurde das Video auf Bayern 3 gespielt und die Moderatoren machten sich ebenfalls lustig. Das Video ist viral geworden.

In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich? Wo Menschen sich auf Kosten von Menschen mit Handicap lustig machen?!? Ich glaube tatsächlich nicht, dass die Sprechstundenhilfen böses im Sinn hatten, ich verstehe sogar, dass man in ihrem Job manchmal Humor braucht, um mit solchen Situationen umzugehen. Aber dieses Veröffentlichen, zur Schau stellen ist es, was ich ankreide. Und nur weil es eine „Oma“ ist, wie viele Kommentatoren des Videos schreiben, ist es weniger schlimm? Oder – wie viele argumentieren – weil man ja den Namen nicht hört oder die Dame das ja sowieso nicht mitbekommt? Oder weil manche eine Oma haben, der es genau so geht und die darüber gemeinsam lachen? Schön – aber trotzdem kann es viele geben, die so etwas verletzt.

Und wenn jemand, der tatsächlich selber betroffen ist, darauf hinweist, dass dies aus Schwerhörigensicht sehr verletzend sein kann, wird auch noch verbal draufgehauen, statt zumindest dann mal die Klappe zu halten.

Ich weiß, ich sollte das nicht an mich ranlassen. Es gibt so viele bescheuerte, egozentrische, unsensible Menschen – und gerade die reißen auf Facebook und Co die Klappe gerne am weitesten auf. Aber es macht mich trotzdem traurig. Denn es ist egal, wer das Pflaster von den Wunden reißt. Es tut trotzdem weh.

Es ging mir mit meinem Kommentar nicht darum, die Mehrheit der Facebook-User zu belehren. Dass das nichts bringt, war mir ohnehin klar. Ich wollte vor allem die Sprechstundenhilfen darauf aufmerksam machen, die es in ihrem Beruf eigentlich besser wissen müssten und die höchstwahrscheinlich nicht genau darüber nachgedacht haben, bevor sie dies gefilmt und online gestellt haben.

Möglicherweise kommen sie doch irgendwann ins Nachdenken. Aber wahrscheinlicher ist, dass sie ihre 5 Minuten Ruhm, die ihnen ihr virales Video einbringt, genüsslich auskosten. Herzlichen Glückwunsch.

—– Nachtrag —

Die Person, die das Video auf Facebook gepostet hat (zumindest die Version, die ich gesehen habe) ist keine Sprechstundenhilfe, sondern wohl eine Nachrichtensprecherin eines Privatsenders… Ändert aber nichts daran, dass ein/e Praxismitarbeiter/in die Sprechstundenhilfe gefilmt hat und dann irgendwie an die Öffentlichkeit weitergegeben.

19 Kommentare

  1. Ich glaube, dass sich die Sprechstundenhilfe gar nichts dabei gedacht hat. Meine Azubis haben solche Dummheiten auch schon gemacht. ABER: wenn es niemanden gibt, der erklärt, wie dumm sowas ist, werden sie es nie kapieren. Ich wünsche all denen, die über das Video lachen, dass sich niemals jemand über ihre (späteren) körperlichen und geistigen Unzulänglichkeiten lustig macht. Ich finde es sehr mutig von Dir, dass Du in einem sozialen Netzwerk als Betroffene Deine Meinung gesagt hast!!! Mutig, weil das meist die Plattform derer ist, die nicht genügend Intelligenz haben, zu kapieren, wann sie ihre eigene Dummheit bloßstellen.

    Ich bitte Dich, bleib so mutig und stumpf nicht ab, bei all der Blödheit der heutigen Zeit!

    Liebste Grüße, Kate

  2. Hallo!
    Habe gerade mit Entsetzen, aber leider wenig Überraschung deinen Beitrag gelesen.

    Was ich überhaupt nicht witzig finde, ist die Tatsache, dass es von einer Sprechstundenhilfe online gestellt wurde. Das ist ein absolutes Unding und verstößt gegen die Schweigepflicht. Ich hoffe wirklich, dass das ernsthafte Konsequenzen für die Person hat.
    Diejenigen, die darüber lachen, sollten bedenken, dass sie vielleicht auch mal in eine ähnliche Situation kommen könnten. Ob Handicap oder nicht. Dann möchte man selber doch auch nicht, dass sich so etwas rasend schnell im Internet verbreitet. Und wenn ich mich selbst in einer Arztpraxis nicht mehr sicher und diskret behandelt fühlen kann, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.
    Dabei ist es vollkommen egal, ob man die Person am Telefon erkennen kann oder nicht. Wenn sie sich selber erkennt, dann reicht es schon.

    LG Stephanie

  3. Ich kann nachvollziehen, was das Video in dir ausgelöst hat. Ich bin zwar nicht schwerhörig, sondern stark sehbehindert, aber aus eigener Erfahrung weiß ich wie weh solche Scherze tun können.
    Die meisten Menschen denken dabei ja nicht mal etwas Böses. Es ist eher wie eines dieser Video-Clips im Fernsehen, bei denen Leute vom Stuhl kippen oder eine Torte ins Gesicht bekommen. Die Leute überlegen nicht, sondern lachen kurz und haben es dann schon wieder vergessen.

    Oft setzt ein Nachdenken erst dann ein, wenn man selbst erfahren hat, was das Lachen fremder Menschen über etwas, für das man nichts kann, in einem auslöst. Wie ausgegrenzt man sich dadurch fühlt.

    Grundsätzlich habe ich nichts gegen Behindertenwitze (darüber habe ich auch schon einmal gebloggt). Es kommt für mich dabei nur sehr stark auf den Kontext an: Ein guter Freund oder Kollege kann gerne einen „blöden Spruch“ im Bezug auf meine Behinderung bringen – dann kriegt er halt einen entsprechenden Spruch zurück und wir lachen beide.

    Die Situation, die du beschreibst ist natürlich eine ganz andere Hausnummer. Da machen sich Fremde auf Kosten eines Menschen lustig, der sich nicht wehren kann. Und da hört für mich der Humor auch auf.
    Besonders die Reaktionen auf deinen Kommentar finde ich sehr traurig. Ich finde es toll, dass du Stellung bezogen und deine Sichtweise dargestellt hast. Ich hätte den Mut wahrscheinlich nicht aufgebracht.

    Ganz liebe Grüße
    Anja

    • Mamamania

      Genau darum ging es mir. Ich verstehe durchaus Humor. Mache mich selber oft über mich lustig – mit Familie oder Freunden finde ich das auch nicht schlimm. mit meinen Kindern lache ich mich oft kaputt, was für merkwürdige Sachen ich verstehe. Aber du hast den Punkt erkannt. Und vor allem die bösartigen Antworten darauf haben mich echt erschreckt.

  4. Du hast es genau richtig gemacht mit dem, was du dazu geschrieben hast. Ich kann das gut nachvollziehen, ich habe jahrelang mit gehörlosen und schwerhörigen Kindern gearbeitet. Sinn für Humor ist gut und wichtig, aber sich auf so eine Art über andere lustig zu machen ist nicht in Ordnung. Schade, dass du dafür auch so viele negative Kommentare bekommen hast. :(

  5. Ich höre selbst auf einem Ohr nichts und es ist demütigend, wenn Andere sich darüber lustig machen.
    Egal wie alt jemand ist. Über Handicaps lache ich nicht.
    Das hat was mit Respekt zu tun.
    Du hast genau das Richtige getan: Bist aufgestanden und hast Dich stark gemacht. Für die, die sich nicht wehren (können)
    Danke dafür!!!
    Liebe Grüße
    Suse

  6. Ich hab selbst eine Hochtonschwerhörigkeit, die es schwer macht, gesprochene Worte aus Umgebungslärm raus zu hören. Oft genug muss ich bei Kollegen fragen, was sie gesagt haben. Das geht noch halbwegs, die sind in der Branche (Maschinenbau) an Kollegen gewöhnt, die schlecht hören. Das Gehör wird dort auch stark belastet. Woanders ist das, wie du selbst geschildert hast, gar nicht so einfach. Viele haben kein Verständnis dafür, halten einen sogar für arrogant, wenn man nicht von Anfang an mitbekommt, dass sie mit einem sprechen. So passierte das öfter mal meiner besten Freundin, die gehörlos ist.

    Du hast alles richtig gemacht. Lass dich nicht unterkriegen. Die Menschen brauchen wirklich mehr Sensibilität und Verständnis.

  7. Pingback: Mädchenmannschaft » Blog Archive » Störaktion bei der Antidiskriminierungsstelle und Neues im feministischen Internet – die Blogschau

  8. Verzeihung, dass mein Beitrag nichts mit dem eigentlichen Inhalt des Posts zu tun hat, aber die folgende Angabe halte ich für wichtig:
    „Sprechstundenhilfe“ ist ein diskriminierender und vielfach kritisierter Begriff. Angemessener ist der Ausdruck „Arzthelfer*in“.

    (ansonsten danke für diesen Post!)

    • Mamamania

      Ach, das wusste ich tatsächlich nicht! Beim ursprünglichen Facebook-Post stand auch „geduldigste Sprechstundenhilfe Bayerns“. Verstehe als „Laie“ zwar nicht, was daran diskriminierend ist, respektiere es aber zukünftig gerne.

      • Vieles ist zwar historisch gewachsen, aber vor allem hat es damit zu tun, dass „Sprechstundenhilfe“ reine Bürotätigkeit impliziert, währende „Arzthelfer*in“ auf die medizinischen Anteile des Berufs hinweist. Arzthelfer*innen wird seit jeher oft jegliche medizinische Kompetenz abgestritten – während diese der Kernbereich der Ausbildung und des Berufs ist. Verständlicherweise ist es für Betroffene unangenehm.

        • man sagt auch nicht mehr arzthelfer oder -helferin, es handelt sich um medizinische fachangestellte.

    • man sagt auch nicht mehr arzthelfer oder -helferin, es handelt sich um medizinische fachangestellte.

  9. Auch wenn ich nicht betroffen bin, bin ich ganz bei dir. Menschen sollten immer erst davon ausgehen, wie sie in dieser Situation behandelt werden wollten, um dann zu urteilen. Ich finde das respeklos gegenüber jeder Art der körperlichen Einschränkung. Deine Worte sind wahr, nur leider sehen manche Menschen das nicht so. Schade. :( Übrigens finde ich, macht es kein Unterschied, wer dieses Video postet- es bleibt falsch und respektlos.

  10. Ich finde es echt schade, dass manche Leute nicht weiter als bis zum Tellerrand denken!
    Ich selbst habe zwar noch keine Probleme, komme aber aus einer Familie in der Schwerhörigkeit sehr verbreitet ist und es kann passieren, dass ich irgendwann eben solche Probleme auch habe. Deswegen kann ich deinen Standpunkt auch voll und ganz nachvollziehen. Erst kürzlich habe ich ein Video gesehen in welchem Menschen zu sehen waren, die zum ersten Mal, dank moderner Technik, etwas hören konnten und mir sind die Tränen nur so geflossen. In solchen Momenten begreift man erst, für wie selbstverständlich wir unsere Sinne nehmen und nicht im Traum daran denken, dass wir vielleicht einen verlieren könnten.
    Besonders die Reaktion der Menschen auf deinen Post entsetzt mich. Natürlich darf man nicht alles immer bierernst nehmen, aber die Frau ist bloß gestellt worden und das ist wirklich nicht lustig. Leider denken eben auch diese Menschen nicht weiter als bis zum Tellerrand oder denken auch nur mal daran das sie selbst vielleicht mal betroffen sein könnten. Leider ist diesen Menschen nicht zu helfen, aber wehe dem sie würden eine solche Situation geraten,
    Ich finde es toll das du dich zu Wort gemeldet hast, auch wenn das vielleicht nicht deinem Naturell entspricht. Vielleicht hast du ja den ein oder anderen damit erreicht und sie fangen mal an nachzudenken!

    Liebe Grüße
    Missy

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